Chicago Tribune 22. Oktober 2001

Afghanische Frauen fuehren ihren eigenen Krieg

Von Liz Sly
Auslandskorrespondentin der Tribune

FLUECHTLINGSLAGER JALOZAI, Pakistan -- Fuer viele ist der alles verhuellende Schleier, den das Taliban-Regime den Frauen Afghanistans aufzwingt, das unheilvollste Symbol der totalen Unterdrueckung der Frauen des Landes. Er beschraenkt die Luftzufuhr, haelt das Licht ab , schraenkt die Bewegungsfreiheit ein und loescht die Individualitaet aus.

Die Frauen Afghanistans jedoch leisten aus dem Gefaengnis ihrer Kleider-Kaefige heraus Widerstand.

Indem sie ihre Burqas als Verstecke fuer verborgene Aktivitaeten benutzen, fuehrt eine Gruppe afghanischer Frauen einen geheimen Krieg gegen die Unterdrueckung der Frauenrechte durch die Taliban. Die Revolutionaere Vereinigung der Frauen Afghanistans, bekannt als RAWA, unterstuetzt eine moderate Forderung fuer Gleichberechtigung der Geschlechter. Im Kontext des Taliban-regierten Afghanistan ist das jedoch eine radikale Bewegung und genauso revolutionaer wie jede der militanten islamischen Organisationen, die Amerika mit seinem Krieg gegen den Terror bekaempft.

In einem Land, in dem Frauen vom Schulbesuch ausgeschlossen sind, wo sie nicht berufstaetig sein duerfen, wo sie ihre Gesichter verhuellen muessen und die Auspeitschung riskieren, wenn sie in der Oeffentlichkeit lachen, sind RAWA’s Waffen einfach, aber hoechst wirkungsvoll. RAWA unterhaelt illegale Schulklassen fuer Maedchen. RAWA unterstuetzt das Tragen von Nagellack. Sie fotografieren heimlich die Grausamkeiten der Talibanund veroeffentlichen sie auf ihrer web-site www.rawa.org. Sie halten verborgene Klassen fuer politisches Bewusstsein ab, in denen afghanische Frauen die Grundlagen der Menschenrechte lernen koennen.

"Unser Hauptmotiv ist es, ihnen bewusst zu machen, dass sie Rechte haben und dass sie fuer ihre Rechte kaempfen koennen", sagt Weeda Mansoor, 36, Mitglied von RAWA’s elfkoepfigem Leitungskollektiv, von einer der Basislager der Gruppe in einem Fluechtlingslager in Pakistan aus.

Mansoor ist nicht ihr richtiger Name, aber der „Kampfnam", den sie benutzt, wenn sie nach Pakistan faehrt. Sie lebt in Kabul, wo sie wiederum einen anderen Namen benutzt. Nur ihr Mann weiss um ihre wahre Identitaet. Sie weigert sich, sich fotografieren zu lassen und glaubt, dass die Taliban nicht wissen, wer sie ist.

Ironischerweise ist die Tatsache, dass die Taliban die Frauen zwingen, sich zu verschleiern, der Grund dafuer, dass Mansoor und andere weibliche Revolutionaerinnen unerkannt arbeiten koennen. Ihre weiten Roben verschleiern nicht nur ihre Identitaet, sondern verstecken Schulbuecher, Stapel von RAWA-Veroeffentlichungen, die verbotenerweise ueber Nneuigkeiten aus der Aussenwelt berichten, und sogar Videokameras, alles Verstoesse, die mit dem Tode bestraft wuerden, falls die Frauen erwischt werden sollten.

"Das ist der einzige Vorteil der Burqa" sagt Mansoor." Abgesehen davon ist die Burqa das scheusslichste Ding".

RAWA’s ultimatives Ziel ist die Stuerzung des Taliban-Regimes und die Einsetzung einer demokratischen Regierung, die den Frauen ihre Rechte garantiert. Mansoon erkennt die Tatsache an, dass eine grossangelegte Revolution die Faehigkeiten der unterdrueckten Frauen Afghanistans uebersteigt, den Frauen, die ihr Haus nicht ohne die Begleitung eines maennlichen Verwandten verlassen duerfen und denen es verboten ist, mit irgendeinem Mann ausserhalb ihrer Familie zu sprechen.

"Sie sind so hilflos, so hoffnungslos", sagte sie. "Ihre Haende siond leer, ihre Baeuche sind leer. Sie sind nichts. Sie koennten nicht an Streiks oder Demonstrationen teilnehmen".

Koran-Gruppen als Deckmantel

Stattdesen konzentriert die Gruppe ihre Bemuehungen auf die Bildung. Obwohl Maedchen keine Schulen besuchen duerfen, ist ihnen das Koranstudium erlaubt. Unter dem Deckmantel der religioesen Erziehung hat RAWA mehr als 100 verborgene Schulen im Taliban-regierten Afghanistan eingerichtet, wo kleine Gruppen von Maedchen sich zum Lernen treffen. Wenn ein misstrauischer Taliban hereinkommt, verstecken die Maedchen ihre Schulbuecher unter ihren Schleiern und fangen an, Verse aus dem Koran zu rezitieren.

Einige Frauen sind fuer das Unterrichten dieser Klassen verhaftet und eingesperrt worden. Die Schulen werden kaum jemals entdeckt, sagt Mansoor, weil praktisch alle Frauen in ihrem Hass gegen die Taliban und ihre erdrueckenden Regeln vereint sind. "Die Taliban werden ausschliesslich von ihren eigenen Frauen unterstuetzt, das ist alles" sagte sie. "Keine Frau wuerde jemals den Taliban verraten, wo eine Schule ist, die von Frauen besucht wird."

Mansoor, die RAWA im Alter von 14 Jahren beigetreten ist, leitet die Kampagne fuer politische Bewusstseinsbildung; sie reist kreuz und quer durchs Land, um Treffen von kleinen Frauengruppen zu halten, die sie ueber den Status der Frauen in anderen Laendern unterrichtet. Von diesen Frauen wird dann erwartet, dass sie wiederum andere in ihrer eigenen Nachbarschaft unterrichten.

Seite 3 von 3 Frauengruppe im Jahre 77 gegruendet

Als RAWA 1977 von einer provokativen Kaempferin namens Meena gegruendet wurde, hatten afghanische Frauen wesentlich mehr Rechte als heute. Es gab keinen Schleierzwang, und Frauen gingen in hoehere Schulen und hatten Jobs. Der Aufstieg des islamischen Extremismus warf die Frauenrechte um Jahrzehnte , ja sogar um Jahrhunderte zurueck, und dadurch wurde RAWA’s Mission in einen vollen Kampf umgewandelt.

Meena wurde 1987 von Fundamentalisten in einem Lager nahe Quetta, Pakistan, getoetet. Heute ist sie die Heldin der Bewegung, die Inspiration, und ein Schwarz-weiss-Portrait von ihr haengt an der Wand jedes RAWA-Bueros.

RAWA unterhaelt weiterhin Schulen und Kliniken in afghanistanischen Fluechtlingslagern in Pakistan. Innerhalb Afghanistans jedoch konzentriert RAWA seine groessten Bemuehungen.

Mansoor sagte, sie habe fuenf Jahre nach der Machtergreifung der Taliban erste Zeichen von Wiederstand bei den Frauen Afghanistans entdeckt. Der letzte Schrei in Kabul sind lackierte Zehennaegel, berichtet Mansoor. Weil die Taliban darauf bestehen, dass Frauen nie barfuss gehen duerfen, koennen Frauen ihre lackierten Zehennaegel vor Entdeckung schuetzen. Heimliche Schoenheitssalons werden eroeffnet, und aus Pakistan eingeschmuggelte Lippenstifte sind in Kabul heissbegehrt. "Frauen werden definitiv mutiger", sagt sie.

Ein langer Kampf steht bevor

Sogar nach einem Sturz des Taliban-Regimes steht RAWA eine lange Reise bevor. Nur einige Tausend Maedchen haben die Schulen in Afghanistan besucht, Hunderttausende wachsen auf, ohne Lesen und Schreiben zu lernen.

Zumindest einige wenige sind der Dunkelheit entkommen, Maedchen wie die dreizehnjaehrige Naheed, die acht Jahre alt war, als die Taliban an die Macht kamen und die Schulbildung fuer Maedchen verboten. Waehrend der naechsten fuenf Jahre lernte Naheed zusammen mit 16 anderen Maedchen hemlich in einer RAWA-Schule; und sie hat ein Talent fuer Mathematik entwickelt und moechte gerne einmal Ingenieurin werden.

"Alle meine Freunde wollten in die Schule gehen, weil Bildung das Augenlicht ist", sagt Nayeed, die im letzten Sommer nach Pakistan gegangen ist. "Wenn du keine Bildung hast, bist du ein Nichts".


Aus: http://www.chicagotribune.com/

Reprinted in The Los Angeles Times, Oct.22, 2001
http://www.latimes.com/news/nationworld/wire/sns-worldtrade-women-ct.story





Afghanisch Aktivist decries USA bombardierend (Chicago Tribune, Nov.9, 2001)



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